Sekunden der Gnade

Buchseite und Rezensionen zu 'Sekunden der Gnade' von Dennis Lehane
4.85
4.9 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Sekunden der Gnade"

Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:400
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072587

Rezensionen zu "Sekunden der Gnade"

  1. Rassismus - leider immer noch aktuell

    REZENSION – Das amerikanische Reizthema der Rassentrennung sowie die in vergangenen Jahren wieder zunehmende Segregation an US-Schulen bilden den Hintergrund zu dem im August beim Diogenes Verlag erschienenen Roman „Sekunden der Gnade“ des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane (58). Zwar wurde bereits 1954 nach der Klage einer afroamerikanischen Mutter die Rassentrennung an den Schulen der Vereinigten Staaten grundsätzlich aufgehoben (Brown gegen das Board of Education), doch waren es erst drei Jahre später die „Little Rock Nine“, die neun schwarzen Schüler aus Little Rock (Arkansas), die unter starkem Schutz der Nationalgarde die „weiße“ Little Rock Central High School besuchen durften.
    Um die unterschiedlichen sozialen Milieus in den Schulen zusammenzuführen, richteten in den nachfolgenden Jahren viele Städte – meist auf Druck der Bundesregierung und der Gerichte – spezielle „Busing-Programme“ ein: Schüler aus überwiegend von Schwarzen bewohnten Innenstädten wurden mit Bussen in die Schulen der vorwiegend von Weißen bewohnten Vorstädte gefahren und weiße Kinder und Jugendliche in die von Schwarzen besuchten Schulen der Innenstädte. Im September 1974 wurde Boston, Heimatstadt des 1965 in der vom Arbeitermilieu irischer Einwanderer geprägten Vorstadt Dorchester geborenen Autors Dennis Lehane, zu einem Widerstandszentreum weißer Vorstadtbewohner gegen das vom Bürgermeister angeordnete „Busing“. Lehane schreibt im Nachwort: „Ich habe die ganze gewalttätige Show hautnah miterlebt.“ Die Einwohner setzten sich vor allem aus rassistischen Gründen gegen diese Integrationsmaßnahmen zur Wehr, gaben allerdings vor, das Absinken des Bildungsniveaus an ihrer Schule zu fürchten. Hören wir nicht auch in Deutschland nach Anstieg der Schülerzahlen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien verstärkt gerade dieses Argument?
    Vor diesem sozialpolitischen Hintergrund des Jahres 1974 spielt der Roman „Sekunden der Gnade“ in einer Bostoner Vorstadt: Die Weißen sind in Aufruhr und leben in Angst vor den schwarzen Jugendlichen. „Weeze würde sich im Grab umdrehn, wenn sie an der South Boston High School eine Horde Darkies durch denselben Gang laufen sähe wie ihre Enkeltochter.“ Eines Nachts kommt die 17-jährige Jules Fennessy nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht kam ein schwarzer Junge ums Leben, als er von vier weißen Jugendlichen vor einen einfahrenden Zug gestoßen wurde. Haben beide Vorfälle etwas miteinander zu tun? Gehörte Jules zu dieser Gruppe? Ihre Mutter Mary Pat sucht sie in der Nachbarschaft und fragt überall bei Freunden und Bekannten nach ihr. Zunächst will ihr niemand etwas sagen. Doch dann erfährt sie, dass Jules in mafiösen Verbrecherkreisen verkehrt hat. Schließlich muss sie erkennen, dass man ihr, die schon einen geliebten Mann und ihren ältesten Sohn verloren hat und vom zweiten Mann verlassen wurde, nun auch noch das Letzte genommen hat, was ihrem Leben Sinn gab: Ihre Tochter wurde von ihrem verheirateten Liebhaber ermordet. Doch Mary Pat, die schon in ihrer Kindheit wie ein Junge zu kämpfen gelernt hatte, gibt sich nicht geschlagen. In tiefem Schmerz nimmt sie Rache. Dabei schreckt sie auch vor Mord nicht zurück. Schließlich hat sie nichts mehr zu verlieren.
    „Sekunden der Gnade“ ist aus mehreren Gründen interessant: Einerseits beschreibt der aus eigenem Erleben sachkundige Autor sehr plastisch das soziale Miteinander, die Gefühlswelt der Bewohner sowie den Lebensstandard der weißen Arbeiterschicht: „Bess ist ein zweifarbiger 1959er Ford Country. Sein Heck hängt durch wie ein alter Hundearsch … und den Auspuff halten nur zerfranstes Metzgergarn und schieres Glück.“ Zum Anderen erfährt man viel über die gesamtpolitische Stimmung zu jener Zeit in den USA sowie über das politische Bemühen schulischer Integration von Schwarz und Weiß. Drittens verbindet Lehane dies in einer spannenden Handlung, geschrieben in lockerer, oft bildhafter Sprache, die schon allein das Buch zu guter Lektüre macht.
    Im abschließenden Nachwort warnt Dennis Lehane: „Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern.“ Blickt man sich heute auf den Straßen unserer Großstädte um, erschrickt man, wie aktuell leider dieser Roman trotz seines historischen Hintergrunds ist.

  1. 5
    14. Okt 2023 

    Im Sumpf von Armut, Rassismus und Verbrechen...

    Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis. (Verlagsbeschreibung)

    Jeder möchte irgendwo dazugehören. Das ist im Menschen angelegt und an sich nicht verwerflich. Aber wenn der Rassismus schon mit der Muttermilch aufgesogen wird, dann hat die Zugehörigkeit mitunter einen hohen Preis.

    Dennis Lehane widmet sich in seinem neuesten (und andeutungsweise womöglich auch letzten) Roman dem Stadtteil Southie in Boston, einem Viertel, das fest in der Hand irischstämmiger Menschen der Unterschicht ist. Dort herrschen Kriminalität und mafiöse Gruppen, Schutzgelder werden bezahlt, dafür kümmern sich die Bosse um das Wohl aller - sofern man sich an die Regeln hält. Southie soll nun im Jahr 1974 nach richterlichem Beschluss Teil eines Pilotprojektes werden: an einigen Schulen soll es erstmals zu einer Durchmischung von weißen und schwarzen Schüler:innen kommen, Busse sollen sie quer durch die Stadt fahren. Das Viertel rüstet sich zu Protesten und Widerstand.

    "Dass sie aus ihrem Drecksloch rauswollen, kann sie den Farbigen nicht verdenken, aber es gegen Mary Pats Drecksloch einzutauschen, ergibt keinen Sinn. Und der Richter, der das Ganze angeordnet hat, wohnt in Wellesley, wo sein Gesetz keine Anwendung findet. (...) Wir sollen uns wie Köter um Tischabfälle zanken, damit wir nicht merken, wie sie mit dem Festschmaus abhauen." (S. 38 f.)

    Mary Pat steht im Mittelpunkt des Geschehens, eine geschiedene Frau, die ihren Sohn verloren hat und sich jetzt noch um ihre heranwachsende Tochter Jules kümmert. Doch die 17Jährige kehrt eines Tages nicht nach Hause zurück. Mary Pat, die sich auf die Suche nach ihrer Tochter macht, stößt im Viertel auf eine Mauer des Schweigens - Gesprächsthema Nummer eins ist hier der Tod eines jungen Schwarzen, der auf dem Bahnhof des Viertels zu Tode kam. Als Mary Pat erfährt, dass der Schwarze von vier weißen Jugendlichen verfolgt worden ist, dämmert es ihr, dass das Verschwinden ihrer Tochter damit zu tun haben könnte. Aber auch jetzt will niemand mit ihr sprechen.

    Schließlich begreift Mary Pat, dass Jules nicht wiederkehren wird - und dass dies totgeschwiegen werden soll. Doch nach einer Phase tiefster Verzweiflung kommt die Wut: Mary Pat begibt sich auf einen Rachefeldzug. Und der hat es in sich...

    "Bobby gewinnt den Eindruck, dass im Innersten dieser Frau etwas unrettbar Zerbrochenes wie auch nicht zu Brechendes liegt. Und diese beiden Eigenschaften gehen nicht zusammen. Ein gebrochener Mensch kann nicht gleichzeitig unzerbrechlich sein. Und doch sitzt hier Mary Pat Fennessy vor ihm, gebrochen, aber unzerbrechlich. Das Paradox macht ihm eine Heidenangst." (S. 212)

    Die Atmosphäre, die Lehane da in diesem Sumpf von Armut, Rassismus und Verbrechen kreiert, ist sehr eindringlich und geradezu greifbar. Sie klebt beim Lesen richtig an einem, und auch die Spannung ist da. Der Schreibstil ist wirklich sehr eindringlich und bildhaft, und das auf eine beinahe unaufgeregte Art, oft regelrecht lakonisch, darum aber nicht weniger bedrückend. Der Roman ist sehr dialoglastig, wodurch man die Denkweise in dem Viertel in Boston auch sofort erfassen kann. Diese festgefahrenen, mit der Muttermilch aufgesogenen Vorurteile, Ressentiments und internen "Gesetze" - wie selbstverständlich es beispielsweise ist, dass die ortsansässige Mafia da das Sagen hat und sich alle unterordnen. Aufgelockert wird die bedrückende Atmosphäre immer wieder durch aufblitzenden schwarzen Humor - angesichts der Dramatik müsste man eigentlich heulen, aber Mary Pat zaubert einem mit ihren kompromisslosen Auftritten schon auch manchmal ein fieses Grinsen ins Gesicht. Ich kann mir nicht helfen, aber mir gefiel die wilde, schlaue Mary Pat, der letztlich vollkommen egal war, was mit ihr geschehen würde...

    "Mein Leben, sagt sie, war meine Tochter. Sie haben mir das Leben genommen, als sie es ihr genommen haben. Ich bin kein Mensch mehr, Bobby. Ich bin ein Testament. - Was? - Gespenster sind doch genau das - Testamente für etwas, das nie hätte geschehen dürfen und bereinigt werden muss, ehe ihr Geist aus der Welt scheidet." (S. 311)

    Die Abgründe, die sich auftun, als Mary Pat allmählich dahinter kommt, was in der Nacht des Verschwindens ihrer Tochter wirklich geschah, wischen einem das Grinsen dann aber endgültig vom Gesicht. Neben Mary Pat geraten zwischendurch auch noch andere Perspektiven in den Fokus, Sichtweisen, die aufzeigen, dass Rassismus und Vorurteile nicht nur von einer Seite her existieren, Perspektiven, die auch den deprimierenden Stand eines rechtschaffenden Polizisten aufzeigen, der genau weiß, dass man die Drahtzieher nie zu fassen bekommt, weil irgendwo im System die Leute korrupt sind. Oder auch die Diskrepanz des jeweiligen Strafmaßes von Weißen und Schwarzen für dieselbe Tat - das Rechtssystem untermauert den gängigen Rassismus noch, wie wir wissen: bis heute.

    Mir gefiel, dass Mary Pats festgefahrene Sichtweise hinsichtlich der Vorurteile den Schwarzen gegenüber Im Verlauf zunehmend ins Wanken gerät. Dabei mutiert sie keineswegs vom Saulus zum Paulus, sondern verändert ihre Sichtweise ganz allmählich und fast gegen einen inneren Wderstand. Auch andere lassen etwas ab von ihren festgefahrenen Bildern - doch lässt der Autor dies nicht als versöhnlichen Aspekt stehen, sondern sellt dem gegenüber am Ende die bittere Realität: die gewaltvollen Proteste gegen die "Rassenmischung" an den Schulen, das Nichtbedientwerden einer Schwarzen in der Kneipe, die Unausrottbarkeit des Bösen. Knallharte Realität, die aufzeigt, wie weit der Weg noch ist.

    Dies ist ein Roman, den ich so schnell nicht vergessen werde. Fast ein Crime Noir, düster und auch hoffnungslos, auch wenn einige positive Ansätze zu Veränderungen aufblitzen. Für mich ein Jahreshighlight, das mich kaum aus seinem Sog entließ.

    © Parden

  1. Rassismus, Gewalt und Korruption

    1974 - Ein heißer Sommer in Boston und die Stimmung wird noch mehr aufgeheizt mit dem Beschluss, dass die Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufgehoben wird und die Schulkinder mit Bussen hin und her gekarrt werden sollen.
    Im Mittelpunkt der Geschichte steht Mary Pat Fennessy, eine 42jährige Krankenschwester, die in ihrem Leben schon sehr viel Leid erfahren hat. Ihr erster Ehemann ist gestorben, vom zweiten lebt sie getrennt und ihren Sohn Noel hat sie durch eine Überdosis Heroin verloren. Als eines Nachts ihre 17jährige Tochter Jules nicht mehr nach Hause kommt, läuten bei Mary Pat alle Alarmglocken. Doch bei ihrer Suche und ihren Fragen trifft sie immer wieder auf eine Mauer aus Schweigen und auch die Polizei kann ihr nicht wirklich helfen. Wut und Hass lassen nicht nur ihre persönliche Situation eskalieren.
    Die Story ist definitiv nichts für schwache Nerven, hier wird mit Gewalt und Blut nicht gespart. Der Plot überzeugt allerdings mit gut aufgebauten Szenen und lebendigen Figuren.
    Dennis Lehane hat in seinem Buch die sozialen Spannungen in Boston der 70er Jahre perfekt mit den Handlungen von Mary Pat's Rachefeldzug verwoben. Der brodelnde Hass zwischen Schwarz und Weiß ist geradezu mit Händen greifbar und die gesellschaftskritische Message der Geschichte regt zum Nachdenken an.
    Der Schreibstil des Autors hat mich so gefesselt, ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und gebe für diese erstklassige Unterhaltung eine klare Leseempfehlung.

  1. Liebe, Hass und Rassismus

    Southie ist ein Viertel von Boston, in dem Hoffnungslosigkeit und Kriminalität herrschen, aber auch Zusammenhalt und Unterstützung. Allerdings muss man sich an die Regeln des Viertels halten. Als ein Bezirksrichter feststellt, dass schwarze Schüler systematisch benachteiligt werden, soll das Dilemma aus der Welt geschafft werden, indem weiße Schüler per Bus in ein schwarzes Viertel gebracht werden und umgekehrt. Aber Mary Pat hat andere Sorgen. Ihre siebzehnjährige Tochter Jules ist nicht nach Hause gekommen und Mary Pat macht sich auf die Suche. Doch ihre Fragen stoßen entweder auf Schweigen und Beschwichtigungen oder aber es gibt Widersprüche in den Aussagen. Doch Mary Pat lässt sich nicht einlullen. Sie macht sich auf, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – ganz gleich, was es sie selbst kostet.

    Es ist eine spannende, aber auch sehr bedrückende Geschichte. Das Leben im Viertel ist hart. Auch wenn man arbeitet, ist es oft nicht möglich, seine Rechnungen zu bezahlen. So geht es auch Mary Pat. Sie ist ausgelaugt und hat nicht genügend Zeit für ihre Tochter. Aber sie liebt sie.

    Es gibt aber auch massiven Rassismus. Wenn etwas schiefläuft im Viertel, können nur die Schwarzen daran schuld sein. Auch die Drogen haben sie nach Southie gebracht und daher sind sie schuld, dass Mary Pats Sohn Noel an einer Überdosis Heroin starb, weil er das in Vietnam Erlebte nicht verkraftet hat.

    Auch wenn ich Mary Pats Vorgehen nicht gut finden kann, so kann ich sie dennoch verstehen. Sie hat alles verloren, was ihr wichtig war, daher ist es ihr auch egal, was aus ihr selbst wird. In ihr sind Hass und Gewalt und so manch einer bekommt zu spüren, wie stark sie sein kann.

    Doch am meisten hat mir der Detective Bobby gefallen. Er weiß um die Schwächen des Systems und doch setzt er alles daran, Schuldige zu überführen. Er führt einen aussichtslosen Kampf, denn überall gibt es Menschen, welche die Hand aufhalten.

    Das Finale ist drastisch, aber leider auch glaubhaft.

    Ein erschreckend aktuelles Thema und eine spannende Geschichte, die absolut lesenswert ist.

  1. 5
    09. Sep 2023 

    Desegregation Busing

    In einem Interview, das der Diogenes Verlag mit dem amerikanischen Bestseller-Autro Dennis Lehane anlässlich der Veröffentlichung von „Sekunden der Gnade“ geführt hat, streut der Autor den Verdacht, dass es sich bei diesem Roman um seinen letzten gehandelt haben könnte - es sei denn, ihm käme eine zündende Idee für ein neues Buch. Auf diese Idee will ich schwer hoffen, denn „Sekunden der Gnade“ ist großes Krimi-Kino und macht Lust auf weitere Romane von Dennis Lehane.

    Für „Sekunden der Gnade“ hat der Autor einen Plot gestaltet, der auf Ereignissen in seiner Kindheit beruht.
    In den 70er Jahren klagten in Amerika Bürger gegen die Ungleichbehandlung schwarzer Kinder im amerikanischen Bildungssystem. Schwarze Schulen waren für schwarze Kinder und Jugendliche vorbehalten. In die weißen Schulen gingen weiße Schüler. Da diese Abgrenzung durch die amerikanische Gesetzgebung zementiert war, kam ein Bostoner Richter auf die findige Idee, dieses Problem mittels „Desegregation Busing“ in den Griff zu bekommen, einer eigenwilligen und gesetzlich manifestierten Form des Schüleraustauschs zur Überwindung sozialer und ethischer Grenzen. Von September 1974 an sollten in Boston Schulbusse zwischen den Vierteln pendeln, schwarze Schüler in weiße Schulen bringen und umgekehrt, so dass eine Durchmischung des Schulalltags herbeigeführt werden sollte. Diese Idee stieß bei den wenigsten auf Gegenliebe. Das Pilotprojekt sollte in einem Stadtteil, in dem hauptsächlich irischstämmige Bürger der Unterschicht lebten sowie einem schwarzen Stadtteil Bostons durchgeführt werden. Der erste Tag dieser Aktion wurde von dem erbitterten Widerstand der irischen Bevölkerung begleitet und zog die folgenden Monate massive rassistische Ausschreitungen zwischen der weißen und schwarzen Bevölkerung nach sich.

    In dieses Wespennest-Szenario hat Dennis Lehane seinen Roman „Sekunden der Gnade“ angesiedelt. Am Vorabend des geplanten Schüleraustauschs kommt ein schwarzer Jugendlicher im weißen Viertel ums Leben. Alles deutet auf ein rassistisch motiviertes Verbrechen hin. Zum Todeszeitpunkt und in der Nähe des Tatorts hielten sich vier irische Jugendliche auf, eine davon ist die Schülerin Jules, die seit diesem Abend spurlos verschwunden ist. Daraufhin versucht ihre Mutter Mary Pat herauszufinden, was mit ihrer Tochter passiert ist. Nur wenig Unterstützung erhält sie dabei von der Polizei, die sich auf die Aufklärung des Mordes an dem schwarzen Jungen konzentriert. Natürlich kommt die Frage auf, inwieweit das Mädchen Jules mit diesem Verbrechen zu tun hat.

    Ich habe in einem Roman selten eine Protagonistin erlebt, die dermaßen ambivalent gestaltet ist wie Mary Pat. Die Frau lebt in prekären Verhältnissen, ein mickriger Job hält sie und ihre Tochter einigermaßen über Wasser. Sie säuft, raucht wie ein Schlot, ihre kleine Wohnung ist eine verkommene und dreckige Bruchbude. Manche würden Mary Pat als eine Schlampe bezeichnen, die zudem noch ein Problem mit Menschen anderer Hautfarben hat, wie übrigens fast alle in diesem irischen Viertel von Boston. Mary Pat ist ihr Leben lang mit Gewalt konfrontiert worden. Von klein auf musste sie lernen, sich ihren Platz im Leben mit Brutalität zu erkämpfen und zu bewahren. Das Wichtigste in ihrem verkorksten Leben ist ihre Tochter, die sie bedingungslos liebt und für die sie alles tun würde, egal zu welchem Preis. Damit zeigt sie eine weiche und gefühlvolle Seite, die sie von den anderen Menschen in ihrem Viertel unterscheidet. Auf der Suche nach ihrem Kind entwickelt sich Mary Pat zu einer unvorstellbaren Naturgewalt, die sogar das organisierte Verbrechen in diesem Stadtteil zum Straucheln bringt.

    Dennis Lehane hat den damaligen Unruhen in Boston als 9-jähriger Steppke beigewohnt. Der aggressive Protest und Rassismus der betroffenen irischen Bevölkerung haben einen verstörenden Eindruck bei ihm hinterlassen, den er in seinem Roman „Sekunden der Gnade“ eingearbeitet hat. Die Proteste der Bevölkerung haben einen großen Anteil an der Geschichte, die Suche Mary Pats nach ihrer Tochter sowie der Mordfall an dem schwarzen Jugendlichen werden in die damaligen realen Ereignisse eingebunden. Realitätsbezug und fiktionale Erzählung gehen eine hochinteressante und unglaublich spannende Verbindung ein. Das Ergebnis ist ein Kriminalroman der Extraklasse. Die Protagonistin Mary Pat hebt diese Besonderheit noch hervor, da der Autor sie mit Merkmalen ausstattet, die beim Leser auf viel Ablehnung stoßen. Dennoch verdient die Protagonistin den größten Respekt des Lesers, da sie im Verlauf der Handlung über sich hinauswachsen wird. „Sekunden der Gnade“ ist großes Erzählkino! Bitte mehr davon, Mr. Lehane.

    © Renie

  1. Was für ein gewaltiges Buch!

    !ein Lesehighlight 2023!

    Klappentext:

    „Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.“

    Dieses Mal mein Fazit zuerst: Dieses Buch ist wieder Mal ein typischer Lehane! Seine Geschichte „Sekunden der Gnade“ ist äußerst atmosphärisch und im höchsten Maße emotional. Ein grandioses Buch! 5 Sterne hierfür!

    Autor Dennis Lehane hat mit seiner aktuellen Story definitiv keine leichte Kost seinen Lesern beschert. Wer Dehane und seinen Schreibstil kennt, weiß das aber auch. In dieser Story bewegen wir uns in Boston in den anfänglichen 1970 Jahren. Schwarze und Weiße, Rassentrennung sind in den Adern der Menschen fest eingebrannt aber genau das soll sich nun ändern. Die Schulkinder, egal welcher Hautfarbe, sollen gemeinsam in den Schulbussen sitzen. Nun ist endgültig das Pulverfass entzündet! Klüfte tun sich auf, Meinungen werden hinaus geschrien und Rechte wollen verteidigt werden. Allein diese Zeitendarstellung ist Lehane grandios gelungen. Man spürt durch das Buch die beiden Lager aufbrodeln, möchte am liebsten selbst Partei ergreifen, möchte allen am liebsten ins Gewissen reden aber wir sind nur die stille Leserschaft dieser Zeilen. Wir werden des Weiteren mit dem Mutter-Tochter-Gespann Mary Pat (eine äußerst harte Frau in meinen Augen, die keineswegs Ängste scheut) und Jules (in einem Alter, in dem man mit einer gewissen jugendlichen, vielleicht naiven Weitsicht manchmal mehr sieht als die Erwachsenen zu sehen glauben) Fennessys betraut. Um hier im farblichen Spektrum zu bleiben: sie wohnen im weißen Viertel und dieses ist mit den Vorbereitung von Demonstrationen etc. gegen die schwarze Bevölkerung beschäftigt. Lehane führt uns Leser hier wie über ein Schachbrett. Fragt sich nur welche Farbe gewinnt?! Seine Züge in der Geschichte sind bestens austariert und genau beschrieben. Er zeigt dem Leser beide Seiten auf, ist keineswegs wertend und schreit mit jedem verfasstem Wort die Probleme von Damals in das Hier und Jetzt hinaus. Diese sind voller Wut, voller Ärger und auch Hass. Ja, Rassendiskriminierung ist leider noch immer aktuell und es scheint nirgend auf der Welt ein Ende dazu in Sicht zu sein. Egal ob Hautfarbe oder Religion ode sonst etwas. Kurzum: Lehans Geschichte hat an Aktualität keinen Millimeter verloren! Mary Pats Tochter ist verschwunden und wir müssen vom schlimmsten ausgehen - aber lesen Sie selbst. Mary Pat versucht schlussendlich alles um an die Gerechtigkeit zu glauben, nur ist das wirklich die Wahrheit? Das Buch ist jede Seite, jedes Wort wert gelesen zu werden! Es fesselt, es beschäftigt, es rüttelt auf und es hallt im unglaublichen Sinne nach!

  1. Haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?

    Haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?

    Mit - Sekunden der Gnade - veröffentlicht der Diogenes Verlag am 23.08.2023 einen Roman, der sicher Viele begeistern und zum Nachdenken anregen kann.

    Zum Inhalt:
    Boston 1974 in den USA. In der Gesellschaft brodelt es. Die Hitze des Sommers ist schwer auszuhalten.
    Aufgrund eines Gesetzesentscheid sollen Kinder fortan in den Schulen nicht mehr aufgrund ihrer Hautfarbe getrennt, unterrichtet werden. Um eine faire Verteilung zu erreichen, sollen im nächsten Schuljahr farbige Kinder mit Bussen. in weiße Schulen gebracht werden.
    Ebenso werden weiße Schüler in vormals ausschließlich "farbigen" Schulen gemeinsam unterrichtet werden...
    Eine Entscheidung, die bei vielen Ängste & Hassgefühle schürt.
    Ebenfalls in diesem Sommer: die 17- jährige Jules Tochter von Mary Fennessy verschwindet spurlos. Ihre Mutter versucht sie auf eigene Faust zu finden. Anstatt Antworten gewinnt Mary Gewissheit, dass das Liebste ihr genommen wurde.
    Ihrem Hass und Verzweiflung folgend, will sie nun Rache üben.

    Der Autor Dennis Lehane: ist ein inzwischen mit Preisen ausgezeichneter amerikanischer Schriftsteller. Für seine Bücher wurde er immer wieder ausgezeichnet und Preise gewonnen.
    Er lebt & arbeitet in Boston/Mass. USA.

    Die deutsche Übersetzung ist von Malte Krutsch.

    Mein persönlicher Eindruck

    Erzählstil, Übersetzung, Lesefluss, Thematik und Gesamtkonzept:
    Dieses Buch war für mich das Erste von Dennis Lehane.
    Ja, ich habe von ihm vorab schon gehört gehabt, aber bisher keinen eigenen Eindruck gewinnen können. Das wollte ich mit diesem Buch ändern.

    Die deutsche Übersetzung: ist gut und flüssig lesbar.
    Die Geschichte wir in dem damals üblichen Jargon & Wortlaut wiedergegeben. Dieses lässt alles noch viel authentischer erscheinen. Natürlich ist auch der Realitätsbezug in diesem Werk ein wichtiger Faktor. Die Emotionen der Protagonisten werden sehr gut beschrieben.
    Die gesamte Erzählung nimmt mich total gefangen.
    Ich sehe leider so viele Analogien zu dem heutigen politischen Geschehen in den USA. Es ist erschreckend. Die Story fungiert wie ein Spiegel in dem sich die homophobe Einstellung vieler Bevölkerungsteilen im In - & Ausland zum Greifen nahe, spiegeln.

    Zusammenfassung & Fazit:
    Ein wichtiges Thema, dass viele Menschen unbedingt lesen sollten. Hier spricht eine vergangene, homophobe Zeitepoche zu uns. Wir, die wir schon wieder beginnen, Menschen, die vermeidlich anders sind, zu verurteilen und zu verunglimpfen.

    Ich vergebe überzeugte 5*Lesesterne & verbinde diese mit einer ausdrücklichen Leseempfehlung an alle, die gern über Fakten lesen & nachdenken.

    Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch im Schulunterricht ein bewegendes Werkzeug sein kann. Sollten wir doch alle aus unseren gemeinsamen Fehlern, der Vergangenheit lernen.

    ISDN: 978-3257072587
    Seitenzahl: 400
    Formate: elektr. & Taschenbuch